Entdeckung

 

Jimmy durchsuchte den Raum.

Die Schenke ›Zur Winkerkrabbe‹ war das Stammlokal all jener, die von ungebetenen Fragen und neugierigen Blicken verschont bleiben wollten. Die Sonne näherte sich langsam dem Horizont, und schon zu dieser Tageszeit war das Lokal mit Gästen aus der Gegend überfüllt. Jimmy erregte nicht wenig Aufsehen, da ihn seine Kleidung als Außenstehenden brandmarkte. Ein paar der Leute kannten ihn vom Sehen - nach dem Armenviertel war der Hafen sozusagen Jimmys zweite Heimat gewesen -, aber die meisten hielten ihn für einen reichen Jungen, der auf einen netten Abend aus war und dem man vielleicht ein paar Goldstücke aus der Tasche ziehen konnte.

Ein solcher Mann, dem Aussehen nach ein Seemann, dazu betrunken und kampflustig, verstellte Jimmy den Weg. »Also, sagt mal, ein so stattlicher junger Herr wie Ihr wird doch wohl für unsereins die eine oder andere Münze springen lassen, damit wir auch auf die kleinen Prinzen anstoßen können, oder was haltet Ihr davon?« Während er sprach, lag die Hand des Seemanns auf dem Griff seines Dolches.

Jimmy wich dem Mann geschickt aus und war schon halb an ihm vorbei. »Nun, ich halte davon gar nichts.« Der Mann griff nach Jimmys Schulter und versuchte, ihn festzuhalten.

Jimmy entwand sich dem Griff geschmeidig, und schon hatte der Mann die Spitze einer Klinge an seiner Kehle. »Ich hab' gesagt, ich hab' kein Geld für dich übrig.«

Der Mann trollte sich, und etliche Zuschauer lachten.

Doch die anderen bildeten einen Kreis um den Junker. Jimmy wußte, daß er einen Fehler gemacht hatte. Aus Zeitmangel hatte er sich nicht die passende Kleidung angezogen, doch er hätte dem anderen auch den halbleeren Geldbeutel unter die Nase halten können. Jetzt war, einmal begonnen, eine Auseinandersetzung nicht mehr zu umgehen. Und war vor einem Augenblick nur sein Geldbeutel in Gefahr gewesen, so ging es jetzt um sein Leben.

Jimmy wich zurück und hielt Ausschau nach Rückendeckung. Seine versteinerte Miene verriet nicht das kleinste Anzeichen von Furcht, und einige der Umstehenden begriffen, hier stand jemand vor ihnen, der wußte, wie er sich in der Hafengegend zu verhalten hatte. Leise sagte er: »Ich suche Trevor Hull.«

Urplötzlich blieben die Männer stehen und rückten ihm nicht näher auf die Pelle. Einer drehte sich um und deutete mit dem Kopf auf die Tür zum Hinterzimmer. Jimmy eilte darauf zu und zog den Vorhang zur Seite.

In einem großen verrauchten Zimmer saß eine Gruppe Männer an einem Tisch und spielte Karten. Den Stapeln von Spielmarken nach zu urteilen ging es um hohe Einsätze. Das Spiel hieß Lin-Lan und war im südlichen Königreich ebenso wie im nördlichen Kesh ausgesprochen beliebt. Bunte Karten lagen verdeckt auf dem Tisch, und abwechselnd wetteten die Spieler oder mußten geben. Die aufgedeckten Karten bestimmten die Quoten und Auszahlungen. Unter den Spielern war ein Mann, über dessen eine Gesichtshälfte - quer durch das milchweiße Auge - sich eine Narbe von der Stirn bis zum Kinn zog, und ein anderer mit Glatze und einem pockennarbigen Gesicht.

Aaron Cook, der Glatzkopf und Erster Maat auf dem Zollschiff Königlicher Rabe, sah auf, als Jimmy auf den Tisch zukam. Er stieß den anderen Mann an, der gerade angewidert seine Karten betrachtete und sie dann auf den Tisch warf. Als er den jungen Mann entdeckte, lächelte er, doch sobald er Jimmys Gesichtsausdruck bemerkt hatte, verdüsterte sich seine Miene wieder. Jimmy mußte seine Stimme heben, um den Lärm zu übertönen. »Euer alter Freund Arthur will etwas von Euch.«

Trevor Hull, Pirat und Schmuggler, wußte sofort Bescheid. Arutha hatte den Decknamen Arthur benutzt, als Hulls Schmuggler und die Spötter Arutha und Anita aus Krondor herausgebracht hatten, während die Geheime Polizei von Guy du Bas-Tyra die Stadt nach ihnen durchkämmte. Nach dem Spaltkrieg hatte Arutha Hull und seine Mannschaft für die in der Vergangenheit begangenen Verbrechen begnadigt und sie als Zolleintreiber in seine Dienste genommen.

Hull und Cook standen gleichzeitig vom Tisch auf. Einer der anderen Spieler, ein dicker Händler, der nach Geld aussah und eine Pfeife im Mundwinkel hängen hatte, sagte: »Wo wollt ihr hin? Wir haben die Runde noch nicht zu Ende gespielt.«

Hull, dessen graues Haar seinen Kopf wie einen Heiligenschein umgab, rief: »Für mich ist sie trotzdem zu Ende. Zum Teufel, ich habe nur eine Reihe Blaue und ein Paar mit vier Punkten.« Er langte noch einmal nach seinen Karten und deckte sie auf.

Jimmy zuckte zusammen. Die Männer fluchten und warfen ihre Karten auf den Tisch. Nach den Regeln dieses Spiels gab es eine Unterbrechung, wenn einer seine Karten aufdeckte. Zum Glück für die anderen wurden die Einsätze stehengelassen, und die Runde wurde noch einmal gespielt, doch diese Aussicht gefiel natürlich denen nicht, die ein gutes Blatt hatten. Während sie durch den vorderen Raum zum Ausgang gingen, bemerkte Jimmy: »Hull, du bist ein gemeiner Hund.«

Der alte Schmuggler, der sich zum Zollbeamten gemausert hatte, lachte dreckig. »Dieser alte Dummkopf war an der Reihe, und er hätte mein Gold kassiert. Ich wollte ihm bloß den Wind aus den Segeln nehmen.«

Sie eilten durch die Straßen, in denen das Fest seinem Höhepunkt entgegenging, derweil die Schatten immer länger wurden.

Arutha betrachtete die Karten auf dem Tisch. Sie stammten aus seinem Archiv und waren vom fürstlichen Architekten angefertigt worden. Jede Einzelheit der Straßen von Krondor war darauf verzeichnet. Eine der Karten, die die Abwasserkanäle darstellte, hatten sie auch benutzt, als sie das letzte Mal gegen die Nachtgreifer vorgegangen waren. In den zurückliegenden zehn Minuten hatte Trevor Hull alle Karten eingehend studiert. Hull war der Kopf der erfolgreichsten Schmugglergruppe in Krondor gewesen, bevor er in Aruthas Dienste getreten war, und die Hinterhöfe und die unterirdischen Kanäle waren seine wichtigsten Transportwege für Schmuggelgut gewesen.

Hull beriet sich mit Cook, dann rieb er sich das Kinn. Sein Zeigefinger deutete auf einen Punkt, wo ein Dutzend Kanäle labyrinthartig zusammenstießen. »Waren die Nachtgreifer in den Abwässern untergekrochen, hätte der Aufrechte sie bemerkt, ehe sie sich hätten einnisten können. Aber vielleicht benutzten sie die Gänge, um ein- und auszugehen« - sein Finger fuhr zu einem anderen Punkt auf der Karte - »hier.« Der Finger zeigte auf einen Teil des Hafens, der sich halbmondförmig an der Bucht entlangzog. In der Mitte der Bucht begannen die Lagerhäuser, aber an dieser Stelle drängte sich auch eine kleine Ecke des Armenviertels wie ein Tortenstück zwischen die wohlhabenderen Stadtteile der Händler ans Wasser.

»Fischdorf«, sagte Jimmy.

»Fischdorf?« fragte Arutha.

»Das ist der ärmste Teil des Armenviertels«, erläuterte Cook.

Hull nickte. »Fischdorf, Taucherstedt, Hafenstedt, und es gibt noch andere Namen. Vor langer Zeit war das mal ein Fischerdorf, und damals war da viel Betrieb. Auch heute leben dort noch einige Fischerfamilien. Vor allem fischen sie nach Hummer und Miesmuscheln, und am Strand weiter im Norden der Stadt gibt es Venusmuscheln. In der Gegend haben sich auch Gerber und Färber und andere angesiedelt, eben alle, die die Luft verpesten, und deshalb wohnt dort niemand, der sich etwas Besseres leisten kann.«

Jimmy sagte: »Alvarny meinte, der Aufrechte vermute, sie hätten sich an einem Ort versteckt, an dem es stinkt. Also muß er auch an Fischdorf gedacht haben.« Jimmy schüttelte den Kopf, während er die Karte noch einmal eingehend betrachtete. »Wenn die Nachtgreifer sich in Fischdorf verstecken, wird es sehr schwer, sie dort zu finden. Selbst die Spötter haben Fischdorf nicht so fest im Griff wie das Armenviertel oder den Hafen. Man kann da ziemlich schnell unter die Räder kommen.«

Hull stimmte zu. »Wir sind da immer durch unterirdische Gänge ein- und ausgegangen. Dort gibt es eine Landestelle, an der wir unsere Fracht durch den Keller eines Kaufmanns in den Hafen gebracht haben.« Arutha sah sich die Karte genauer an und nickte; er wußte, wo die Landestelle lag. »Wir hatten eine Anzahl verschiedener Verstecke, wo wir unsere Waren unterbrachten, und die haben wir von Zeit zu Zeit gewechselt.« Er sah von der Karte auf und warf dem Prinzen einen Blick zu. »Euer größtes Problem sind die Abwasserkanäle. Es gibt ungefähr ein Dutzend, die vom Hafen nach Fischdorf führen. Die müßt Ihr alle blockieren. Einer ist sogar so groß, daß man eine bemanntes Boot braucht, um ihn abzuriegeln.«

Aaron Cook sagte: »Das Schlimmste ist, wir wissen nicht einmal, wo in Fischdorf sie sich eigentlich verstecken.«

»Wenn sie sich überhaupt dort verstecken«, erwiderte Arutha.

»Ich bezweifle«, meinte Cook, »daß der Aufrechte es erwähnt hätte, wenn er nicht guten Grund dazu hatte.«

Hull nickte. »Das ist ganz klar. Ich kann mir keinen anderen Ort in der Stadt vorstellen, an dem sie sich verstecken könnten. Der Aufrechte hätte das Versteck sofort aufgespürt, nachdem ein Spötter den ersten Nachtgreifer entdeckt hätte. Und selbst wenn die Diebe gern in den Abwasserkanälen herumschleichen - an manchen Stellen kommen auch sie nur selten vorbei. Und eine davon ist Fischdorf. Die alten Fischerfamilien dort unten haben sich ihre Unabhängigkeit bewahrt, und sie sind ausgesprochen mächtig. Und wenn sich dort jemand einen Unterschlupf in einem Schuppen am Hafen sucht, still und heimlich ... Selbst die Spötter bekommen von den Leuten in Fischdorf keine Antworten, wenn sie Fragen stellen. Sollten sich die Nachtgreifer da nach und nach eingenistet haben, weiß womöglich niemand außer den Nachbarn etwas davon. Es gibt Unmengen von kleinen, verwinkelten Gassen.« Er schüttelte den Kopf. »Und die Karte bringt uns auch nicht weiter. Die Hälfte der Häuser in der Gegend ist abgebrannt. Überall, wo Platz ist, werden einfach Hütten und Schuppen gebaut. Das reinste Durcheinander.« Er sah den Prinzen an. »Ein weiterer Name für Fischdorf ist ›das Labyrinthe«

»Trevor hat recht«, sagte Jimmy. »Ich bin so oft wie jeder andere Spötter in Fischdorf gewesen, das war nicht sehr häufig. Dort gibt es nichts, was sich zu stehlen lohnt. Aber bei einer Sache liegt Trevor falsch. Das wichtigste ist nicht, alle Fluchtwege zu blockieren, sondern die Nachtgreifer überhaupt erstmal aufzuspüren. In dem Stadtteil leben eine Menge ehrlicher Leute, die kann man nicht einfach alle umbringen. Wir müssen den Unterschlupf finden.« Er dachte nach. »Das Versteck der Nachtgreifer muß an erster Stelle gut zu verteidigen sein, und erst an zweiter einen guten Fluchtweg bieten. Wahrscheinlich sind sie hier.« Er zeigte auf einen Punkt auf der Karte.

Trevor Hull sagte: »Das ist eine Möglichkeit. Dieses Gebäude dort ist gegen zwei andere gebaut, so daß man es nur nach zwei Seiten verteidigen muß. Unter den Straßen gibt es jede Menge Kanäle; und die unterirdischen Gänge darunter sind eng. Wenn man noch nie dagewesen ist, findet man sich kaum zurecht. Doch, ziemlich wahrscheinlich ist das die Stelle.«

Jimmy sah Arutha an. »Ich sollte mich besser umziehen.«

Arutha entgegnete: »Ich möchte dich nicht gern für diese Aufgabe einsetzen, aber du eignest dich von uns allen am besten als Kundschafter.«

Cook sah Hull an, und der nickte kaum merklich. »Ich könnte mitkommen.«

Jimmy schüttelte den Kopf. »Manche Teile der unterirdischen Kanäle kennt Ihr besser als ich, Aaron, aber ich kann überall hindurchschlüpfen, ohne daß sich das Wasser auch nur leise bewegt. Diesen Trick beherrscht Ihr nicht. Und vor allem gibt es keine Möglichkeit, wie Ihr unbemerkt nach Fischdorf hineinkommen könnt, selbst in einer so lauten Nacht wie dieser. Ich bin sicherer aufgehoben, wenn ich allein gehe.«

»Solltest du nicht noch warten?« fragte Arutha.

Jimmy schüttelte den Kopf. »Wenn ich sie ausfindig machen kann, ehe sie überhaupt merken, daß sie entdeckt worden sind, können wir sie vielleicht ausräuchern, bevor sie wissen, wie ihnen geschieht. Die Leute machen manchmal seltsame Sachen, auch die Assassinen. Da heute das große Fest ist, werden ihre Wachen wahrscheinlich niemanden erwarten, der herumschnüffelt. Und eben wegen des Festes wird es die ganze Nacht laut bleiben. Jemandem in den Abwasserkanälen unter dem Haus werden seltsame und ungewohnte Geräusche nicht so auffallen wie sonst. Und wenn ich über der Erde weitersuchen muß, wird ein fremder Junge in Fischdorf vermutlich kaum Aufsehen erregen. Aber ich sollte sofort aufbrechen.«

»Du mußt es am besten wissen«, sagte Arutha. »Doch sie werden sofort reagieren, wenn sie merken, daß ihnen jemand hinterherspioniert. Falls auch nur ein Nachtgreifer einen Blick auf dich erhascht und dich erkennt, werden sie auf der Stelle losschlagen - und zwar gegen mich.«

Diese Tatsache schien Arutha nicht besonders zu beunruhigen.

Im Gegenteil, dachte Jimmy, er wirkte, als würde er die offene Konfrontation herbeisehnen. Nein, Jimmy wußte, was dem Prinzen auf der Seele lag, war die Sicherheit der anderen. »Das braucht Ihr mir nicht extra zu sagen. Der Angriff der Nachtgreifer steht allerdings doch sowieso aller Wahrscheinlichkeit nach heute abend bevor. Der Palast wimmelt ja nur so vor Fremden.« Jimmy sah aus dem Fenster; die späte Nachmittagssonne verschwand hinter dem Horizont. »Es ist jetzt fast sieben Uhr. Wenn ich einen Überfall auf Euch planen würde, dann ließe ich mir noch zwei oder drei Stunden Zeit, bis das Fest auf dem Höhepunkt ist. Die Akrobaten und die Gäste werden betrunken sein, und es wird ein ständiges Kommen und Gehen geben. Alle werden ordentlich dem Wein zugesprochen haben, müde von der langen Feier sein und sich in sehr lockerer Stimmung befinden. Aber viel länger würde ich nicht warten, denn danach könnte den Wachen ein spät eintreffender Gast verdächtig erscheinen. Ihr müßt nur gut aufpassen, dann seid Ihr auch in Sicherheit, während ich mich mal ein wenig nach den Nachtgreifern umsehe. Und sobald ich irgend etwas entdeckt habe, komme ich zurück und erstatte Bericht.«

Arutha gab seine Zustimmung, zu verstehen, und Jimmy machte sich auf. Trevor Hull und sein Erster Maat folgten ihm eilig und ließen den beunruhigten Prinzen mit seinen Gedanken allein. Arutha lehnte sich zurück, ballte die Hände zu Fäusten, drückte sie an die Lippen und starrte ins Leere.

Er war den Lakaien von Murmandamus am Schwarzen See, dem Moraelin, entgegengetreten, doch der letzte Kampf stand offenbar noch bevor. Arutha verfluchte sich dafür, daß er im vergangenen Jahr so selbstgefällig geworden war. Als er mit dem Silberdorn zurückgekehrt war, mit dem er Anita vor dem Gift der Nachtgreifer retten konnte, war er beinahe bereit gewesen, sofort wieder in den Norden aufzubrechen. Doch die Angelegenheiten am Hof, seine eigene Vermählung, seine Reise nach Rillanon zur Hochzeit seines Bruders mit Königin Magda, dann Lord Caldrics Beerdigung und die Geburt seiner Söhne, das alles war ihm in die Quere gekommen, und die Angelegenheit im Norden des Königreiches war nicht zu Ende gebracht worden. Hinter dem großen Gebirge lagen die Nordlande. Dort hatte der Feind seinen Sitz. Dort regierte Murmandamus über seine Truppen. Und von dort oben langte er hinunter nach Süden und griff in das Leben des Prinzen von Krondor, des Lords des Westens, ein. Langte nach ihm, dem Tod des Bösen, dem Mann, der laut Prophezeiung das Verderben des Dunklen Herrschers werden sollte. Wenn er lebte. Und wieder mußte Arutha eine Schlacht direkt vor seiner eigenen Haustür austragen. Er schlug sich mit der Faust in die Handfläche und fluchte leise. Sich selbst und allen Göttern, die zuhörten, schwor er, in dem Moment, in dem diese Angelegenheit in Krondor erledigt sei, würde er, Arutha conDoin, nach Norden aufbrechen und sich seinem Feinde stellen.

 

Die Dunkelheit verbarg Tausende von Schätzen inmitten einer Million Stücke wertlosen Abfalls. Das Wasser in der Kanalisation floß träge dahin, und wenn der Müll irgendwo hängenblieb, bildeten sich große Staus, sogenannte Tofs. Die Tofmänner durchsuchten diese Abfallberge und lebten von den Dingen, die noch zu gebrauchen waren. Meist brachen die Tofmänner die Staudämme aus Müll, so daß die Abwässer weiter abfließen konnten und die Kanäle nicht überflutet wurden. Doch das alles interessierte Jimmy im Moment weniger, bis auf die Tatsache, daß einer der Tofmänner nur wenige Meter vor ihm stand.

Der Junker hatte sich, abgesehen von seinen alten bequemen Stiefeln, ganz in Schwarz gekleidet. Er hatte sich sogar die schwarze Kapuze eines Henkers aus der Folterkammer besorgt. Unter dem Schwarz trug er einfache Kleidung, mit der er im Armenviertel nicht auffallen würde. Der Tofmann starrte einige Male dorthin, wo der Junge stand, doch Jimmy war für ihn unsichtbar.

Fast eine halbe Stunde lang hatte Jimmy bewegungslos an einer Kreuzung im Schatten verharrt, während der alte Tofmann das vorbeitreibende, stinkende Durcheinander zerpflückte. Jimmy hoffte nur, daß dies nicht ausgerechnet die Lieblingsstelle des Mannes war, ansonsten mußte er womöglich noch Stunden ausharren. Und noch flehentlicher hoffte Jimmy, daß der Alte wirklich ein Tofmann war, und nicht ein getarnter Nachtgreifer.

Endlich schlurfte der Mann davon, und Jimmy entspannte sich, bewegte sich jedoch noch eine ganze Weile nicht, damit der Tofmann Zeit hatte, in einem der Seitenkanäle zu verschwinden. Dann kroch Jimmy auf den Stegen entlang, immer auf die Mitte von Fischdorf zu.

Lautlos huschte er durch eine Reihe von Gängen. Selbst wenn er ins Wasser steigen mußte, machte er nur leise Geräusche. Seine naturgegebenen Talente - blitzschnelle Reflexe, erstaunliche Abstimmung von Verstand und Muskeln sowie die Fähigkeit, schnelle Entscheidungen treffen und augenblicklich reagieren zu können - hatte er durch Übung bei den Spöttern zu wahrer Meisterschaft gebracht und unter härtesten Bedingungen vervollkommnet: im täglichen Dasein als Dieb. Jimmy machte jede Bewegung so, als hinge sein Leben davon ab, unentdeckt zu bleiben - und so war es auch.

In den dunklen Gängen der Abwässer, die er durchquerte, richtete er seine Sinne nur auf die Finsternis. Er wußte, wie man die leisen Geräusche, die von der Straße über ihm nach unten drangen, herausfilterte und wie das schwache Plätschern des Wassers, das von den steinernen Wänden widerhallte, klingen mußte; die geringste Veränderung würde jemanden, der vor ihm im Verborgenen lauerte, warnen. Die widerliche Luft der Abwässer überdeckte alle alarmierenden Gerüche, doch die Luft stand so gut wie still, daher würde er eine Bewegung erst bemerken, wenn jemand schon dicht bei ihm war.

Plötzlich rührte sich etwas in der Luft, und Jimmy erstarrte. Irgend etwas hatte sich verändert, und der Junge duckte sich augenblicklich in eine niedrige Nische der Ziegelsteinwand, als ein frischer Luftzug vorbeiwehte. Kurz vor sich hörte er das leise Knirschen von Stiefelleder auf Metall, und ihm war klar, da stieg jemand von der Straße eine Leiter hinunter. Der Junge sah einen kleinen Wirbel im Wasser und spannte alle Muskeln an. Da kam jemand in seine Richtung, jemand, der sich fast so lautlos bewegte wie er selbst.

Jimmy kauerte sich hin, machte sich so klein wie möglich. In der Dunkelheit konnte er die Gestalt, die schwarz im Schwarzen auf ihn zukam, eher erspüren als mit den Augen erkennen. Dann flackerte ein Licht, und Jimmy konnte den herannahenden Mann sehen. Er war schlank und trug einen Umhang und Waffen. Er drehte sich um und flüsterte zischend: »Verdammt, blende die Laterne ab.«

In diesem Moment sah Jimmy ein wohlbekanntes Gesicht. Der Mann im Kanal war Arutha - oder zumindest war er ihm so ähnlich, daß ihn jeder außer seinen engsten Vertrauten für den Prinzen halten müßte.

Jimmy hielt die Luft an, denn der falsche Prinz ging nur wenige Schritte entfernt vorbei. Wer auch immer dem Mann folgte, er blendete die Laterne ab, und im Abwasserkanal herrschte wieder Dunkelheit, die Jimmy vor der Entdeckung schützte. Dann hörte er, wie der zweite Mann an ihm vorbeiging. Jimmy lauschte auf weitere Geräusche, wartete, bis er sicher war, daß niemand mehr kam. Dann erhob er sich rasch, aber leise aus seinem Versteck und huschte zu der Stelle, an der die beiden Männer aus der Finsternis aufgetaucht waren. Hier stießen drei Gänge aufeinander, und es würde ihn einige Zeit kosten, wenn er herausfinden wollte, aus welchem der falsche Prinz und sein Gefährte gekommen waren. Jimmy wägte kurz ab, dann hielt er es für wichtiger, den beiden zu folgen, als zu wissen, wo sie in das unterirdische Kanalsystem eingestiegen waren.

Jimmy kannte diesen Teil der Abwässer besser als jeder andere in Krondor, doch wenn er die beiden zu weit aus den Augen ließ, würde er sie verlieren. Er schlich durch die Dunkelheit und horchte an jeder Abzweigung nach Geräuschen, die ihm verrieten, welche Richtung der falsche Prinz und sein Gefährte eingeschlagen hatten. Der Junge eilte durch die finsteren Gänge unter der Stadt und langsam holte er die beiden Männer ein. Einmal sah er kurz einen Lichtschein, als wäre die Laterne für einen Moment aufgedeckt worden, damit sich die Fremden orientieren konnten. Jimmy folgte ihnen.

Dann bog Jimmy um eine Ecke, und ein plötzlicher Luftzug warnte ihn gerade noch rechtzeitig. Er duckte sich und merkte, wie etwas über ihn hinwegschoß, dort, wo sich eben noch sein Kopf befunden hatte. Die Bewegung wurde von einem angestrengten Stöhnen begleitet. Er zog seinen Dolch, wandte sich in die Richtung, aus der die Atemgeräusche kamen und hielt selbst die Luft an. Bei einem Kampf in dieser Dunkelheit mußte man unbedingt seine panische Angst kontrollieren. Man konnte sterben, wenn man seine gereizte Phantasie nicht beherrschte, die einem den Gegner dort vorspielte, wo er gar nicht war, und so dem anderen die eigene Position verriet. Geräusche, trügerische Bewegungen, die man scheinbar aus den Augenwinkeln wahrnahm, das Gefühl, das einem sagte, wo der Feind stand, all das konnte einen verhängnisvolle Fehler machen lassen, die den eigenen Standort preisgaben - und das Leben kosteten. Beide Männer standen ein Weile lang wie angewurzelt da.

Jimmy merkte, wie etwas vorbeihuschte. Eine Ratte, dem Geräusch nach eine große, lief hastig davon, ging den Schwierigkeiten aus dem Weg. Er machte einen Satz in die Richtung, sein Gegner stach auf die Quelle des Geräusches ein, erwischte allerdings nur die Wand. Ein im Mauerwerk eingelassener Ring gab Jimmy Halt, dann stieß er mit dem Dolch zu und spürte ihn tief im Fleisch seines Gegners versinken. Der Mann erstarrte, und brach dann mit einem leisen Stöhnen zusammen. Zwei Stiche in der Dunkelheit - das war der ganze Kampf gewesen.

Jimmy zog den Dolch zurück und lauschte. Weit und breit kein Zeichen vom Gefährten des Mannes. Der Junker fluchte in Gedanken. Zwar mußte er jetzt nicht mehr mit einem überraschenden Angriff rechnen, doch der zweite Fremde hatte entkommen können. Jimmy spürte in der Nähe etwas Heißes und verbrannte sich fast die Finger an der eisernen Laterne. Er hob die Blende hoch und betrachtete seinen Widersacher. Er kannte den Mann nicht, aber Jimmy wußte, es war ein Nachtgreifer. Alles andere würde seine Anwesenheit hier in den Abwasserkanälen, und dazu mit einem Doppelgänger des Prinzen, kaum ausreichend erklären. Jimmy untersuchte die Leiche und entdeckte den Greif aus Ebenholz und den schwarzen Giftring. Es gab keinen Zweifel: Die Nachtgreifer waren zurück. Jimmy holte tief Luft und machte sich an die blutige Arbeit. Schnell schnitt er dem Mann die Brust auf, holte das Herz heraus und warf es in das Abwasser. Bei den Nachtgreifern wußte man nie, ob sie nicht wieder auferstanden und ihrem Meister weiter dienten, also war es am besten, alle möglichen Vorkehrungen zu treffen.

Jimmy warf die Leiche ins Wasser, das sie zusammen mit anderen Abfallen bis zum Meer treiben würde, ließ die Laterne stehen und machte sich auf dem Rückweg zum Palast. Er beeilte sich und bedauerte nun, soviel Zeit mit der Leiche verschwendet zu haben. Schließlich mußte er unbedingt vor dem falschen Prinzen im Palast eintreffen. Ohne Rücksicht auf den Lärm, den er verursachte, suchte er den nächsten Ausgang nach oben. Jimmy ging davon aus, daß der falsche Prinz längst auf und davon war. Als er um eine Ecke bog, schrillten in seinem Kopf plötzlich die Alarmglocken, denn irgend etwas klang anders. Er duckte sich, doch einen Moment zu spät. Der Klinge des Schwertes konnte er eben noch ausweichen, doch das Heft erwischte ihn an der Schläfe. Er wurde hart gegen die Wand geworfen, und sein Kopf schlug gegen die Ziegelmauer. Er sprang nach vorn, landete mitten im Abwasserkanal und tauchte in der trüben Brühe unter. Halb benommen gelang ihm, sich unter Wasser umzudrehen und die Nase durch den Dreck an die Luft zu stecken. In seinen Ohren klingelte es dumpf, dennoch hörte er, wie jemand ganz in seiner Nähe durchs Wasser watete. Irgendwie wurde ihm sogar klar, daß dieser Jemand nach ihm suchte. Allerdings stand die Laterne weit zurück bei dem ersten Mann, und im dunklen Wasser trieb der Junge davon, fort von dieser Person, die nun vergeblich nach Jimmy suchen würde, um sein Leben auszulöschen.

 

Hände schüttelten den Jungen und rissen ihn aus seinen verwirrten Träumen. Es war seltsam, er trieb einfach in der Dunkelheit dahin, wo er sich doch dringend mit dem Prinz von Krondor hätte treffen sollen. Aber er konnte seine guten Stiefel nicht finden, und der Zeremonienmeister deLacy würde ihn niemals mit den alten in den großen Saal eintreten lassen.

Er schlug die Augen auf und blickte direkt in ein ledernes Gesicht, das ihn mit einem zahnlosen Lächeln in der Welt des Bewußtseins begrüßte. »Gut, gut«, sagte der alte Mann und kicherte leise. »Da bist du ja wieder bei uns, was, Junge? Hab' schon alle möglichen Sachen durch die Kanäle treiben sehen, in all den Jahren. Hab' nur nicht geglaubt, daß sie da eines Tages den fürstlichen Henker reinwerfen.« Er kicherte wieder, und im flackernden Kerzenlicht verzog sich sein Gesicht zu einer grotesken Fratze.

Jimmy wurde aus den Worten des Mannes nicht schlau, bis er sich an die Kapuze erinnerte, die er getragen hatte. Der alte Mann mußte sie ihm abgenommen haben.

»Wer ...?«

»Tolly werd ich genannt, junger Jimmy die Hand.« Er kicherte. »Mußt ja schon ganz schöne Schwierigkeiten haben, wenn dir das Wasser so bis zum Hals steht.«

»Wie lange?«

»Zehn, fünfzehn Minuten. Hab's platschen gehört, und dachte, gehste mal gucken, was da los ist. Hab' dich da also treiben gesehen. Dachte, du wärst tot. Hab' ich dich also rausgeholt, wollte doch mal gucken, ob du Gold bei dir hast. Der andere war auch eifrig mit der Suche beschäftigt, konnte dich bloß nicht finden.« Er kicherte erneut. »Hätte dich sicher gefunden, wenn du weiter im Wasser rumgetrieben wärst. Aber ich hab' dich in diesen kleinen Gang gezogen, wo ich mich immer verstecke, und hab' das Licht erst angemacht, als er weg war. Hab' das gefunden«, sagte er und reichte Jimmy seinen Beutel.

»Behalt ihn. Du hast mir das Leben gerettet, und eigentlich noch mehr. Wie kommt man von hier aus am schnellsten auf die Straße?«

Der Mann half Jimmy auf die Beine. »Da vorn findest du die Treppe, die nach Teechs Gerberei hochgeht. Da wird nicht mehr gearbeitet. Liegt direkt am Boulevard des Gestanks.« Jimmy nickte. Die Straße hieß eigentlich Collingtonstraße, aber im Armenviertel sagte jeder Boulevard des Gestanks, weil an ihr nur Gerbereien, Schlachthäuser und Färber lagen.

Tolly sagte: »Du bist nicht mehr in der Gilde, Jimmy, aber es wird gemunkelt, du würdst auftauchen und hier und da ein paar Fragen stellen, also kann ich dir auch das Losungswort sagen: Fink. Hab' keine Ahnung, wer diese Kerle war'n, mit denen du gekämpft hast, aber in den letzten Tagen hab' ich hier unten 'ne ganze Bande unangenehmer Kerle langlaufen sehen. Ich schätze da wird bald irgendwas passieren.«

Jimmy wurde eines klar: dieser einfache Tofmann vertraute den Oberen der Spötter. Die würden sich schon um die Eindringlinge in sein Reich kümmern. »Ja, das kann nur noch eine Sache von Tagen sein«, meinte Jimmy nachdenklich. »Also, in dem Beutel sind dreißig Goldstücke. Bring Alvarny dem Flinken eine Nachricht. Erzähl ihm die ganze Sache, und daß mein neuer Meister sofort handeln wird. Da bin ich mir sicher. Und dann nimm das Gold und mach dir ein paar schöne Tage.«

Der Mann blinzelte Jimmy an und verzog den zahnlosen Mund zu einem breiten Grinsen. »Soll mich hier eine Weile nicht blicken lassen, meinst du? Gut, werd' ich eben ein, zwei Tage lang dein Gold vertrinken. Reicht das?«

Jimmy entgegnete: »Ja, in zwei Tagen wird die Sache erledigt sein.« Und als der Tofmann sich zu dem Ausgang aufmachte, der zur Straße führte, fügte Jimmy hinzu: »So oder so.« Er sah sich in der Dunkelheit um und bemerkte, daß er wieder an der Stelle war, wo er die Nachtgreifer zum ersten Mal gesehen hatte. Er deutete auf die Abzweigung der Kanäle und fragte: »Gibt es hier irgendwo eine Leiter?«

»Drei, die noch was taugen.« Der Mann zeigte Jimmy, wo sie sich befanden.

»Dann nochmals vielen Dank, Tolly. Und jetzt überbring Alvarny so schnell es geht meine Nachricht.«

Der alte Tofmann watete durch einen breiten Kanal davon, und Jimmy untersuchte die erste Leiter. Sie war rostig, und es war sicher nicht ganz ungefährlich, sie zu benutzen. Auch die zweite befand sich in desolatem Zustand. Doch die dritte war erst jüngst repariert und fest in der Steinwand verankert worden. Jimmy stieg rasch hinauf und erforschte die Falltür darüber.

Sie war aus Holz und daher wohl ein Teil vom Fußboden des darüberliegenden Gebäudes. Jimmy versuchte einzuschätzen, wo er war. Wenn dort drüben Teechs Gerberei lag, mußte er unter dem Haus sein, in dem er das Versteck der Nachtgreifer vermutete; falls ihm sein Orientierungssinn keinen Streich spielte. Er lauschte eine Weile an der Klappe, hörte jedoch nichts.

Vorsichtig drückte er die Falltür nach oben und spähte durch den kleinen Spalt. Genau vor seiner Nase befand sich ein Paar Stiefel, und derjenige, der sie trug, hatte die Beine übereinandergeschlagen. Jimmy verharrte. Doch als sich die Stiefel nicht bewegten, drückte er die Klappe ein Stück weiter auf. Die Füße in den Stiefeln gehörten einem unangenehm wirkenden Burschen, der fest schlief und eine halbleere Flasche an die Brust drückte. Dem widerlich süßen Geruch nach hatte der Mann Paga getrunken - ein starkes Gebräu aus Kesh, das mit Gewürzen und einem milden Rauschmittel versetzt wurde. Jimmy ließ schnell seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Abgesehen von der schlafenden Wache war es leer, doch durch die einzige Tür des Raums in der Wand neben ihm drangen schwach Stimmen herein.

Jimmy holte leise Luft und stieg geräuschlos aus dem Schacht, wobei er es vermied, die schlafende Wache anzustoßen. Mit einem einzigen Schritt war er an der Tür und horchte. Auf der anderen Seite sprach jemand mit gedämpfter Stimme. Doch durch einen winzigen Spalt in der Tür konnte Jimmy in den anderen Raum spähen.

Er sah nur den Rücken eines Mannes und das Gesicht eines anderen. Aber so, wie sie redeten, waren auf jeden Fall noch mehr Männer dort drüben, den Geräuschen nach vielleicht ein Dutzend. Hier war also das Hauptquartier der Nachtgreifer. Denn ohne Zweifel waren diese Männer Nachtgreifer. Selbst wenn der Mann, den er getötet hatte, nicht den schwarzen Greifvogel getragen hätte, wäre Jimmy das klar gewesen. Diese Männer gehörten nicht zu dem Volk, das sich sonst in Fischdorf herumtrieb.

Jimmy wünschte, er hätte das Gebäude näher erkunden können. Hier gab es sicher noch ein halbes Dutzend weitere Zimmer, doch der schlafende Mann hinter ihm wurde unruhig und erinnerte den früheren Dieb daran, daß ihm die Zeit davonlief. Der falsche Prinz würde bald den Palast erreichen, mußte allerdings mühsam durch die Abwässer schleichen, während Jimmy auf den Straßen schneller vorankommen würde. Es war also klar, wer als erster im Palast sein würde.

Jimmy zog sich leise zurück und ging wieder zu der Falltür. Er stieg in den Schacht und ließ die Klappe vorsichtig herunter. Als er halb die Leiter hinunter war, hörte er direkt über sich eine Stimme. »Matthew!«

Jimmy klopfte das Herz bis zum Hals. Eine andere Stimme antwortete: »Was?«

»Wenn du dir wieder den Kopf zugesoffen hast und eingeschlafen bist, verspeise ich deine Augen zum Frühstück.«

Die andere Stimme entgegnete irritiert: »Ich hab' die Augen nur für einen Moment zugemacht, gerade als du reingekommen bist. Und jag mir nicht so einen Schrecken ein, sonst werf ich nächstes Mal deine Leber den Krähen vor.«

Jimmy hörte, wie die Falltür aufgeklappt wurde, und ohne Zögern schwang er sich auf die Seite der Leiter. So hing er einen Augenblick lang in der Luft, dann drückte er sich flach an die Steinwand, wo er in den Fugen des Mauerwerks kaum ausreichenden Halt fand. Er vertraute auf seine schwarze Kleidung und die Finsternis des Schachtes - abgesehen davon würden sich die Augen der Männer oben erst an die Dunkelheit gewöhnen müssen. Jemand leuchtete mit einer Lampe nach unten, und Jimmy verbarg sein Gesicht - das einzige an ihm, was nicht schwarz war - und hielt den Atem an. Eine unendlich erscheinende Zeit hing er in der Luft, bis seine Arme und Beine vor Erschöpfung zu ziehen begannen. Er wagte nicht, nach oben zu sehen, er konnte sich nur vorstellen, was die beiden Nachtgreifer dort oben gerade taten. Womöglich zielten sie jetzt mit einer Armbrust auf seinen Kopf, vielleicht würde einen Moment später sein Leben ausgelöscht sein. Er hörte polternde Schritte, dann schweren Atem, und schließlich sagte eine Stimme über ihm: »Siehst du? Nichts. Also laß den Mist. Sonst schwimmst du irgendwann noch mit dem anderen Abfall davon.«

Jimmy zuckte zusammen, als die Falltür laut zugeknallt wurde. Er zählte bis zehn, dann krabbelte er rasch die Leiter hinunter und machte sich durch das Wasser davon.

Er ließ die zankenden Stimmen hinter sich, suchte den Weg zu Teechs Gerberei und eilte zum Palast.

 

Es war schon später Abend, doch die Feierlichkeiten waren noch in vollem Gange. Jimmy rannte fast durch den Palast; die erschrockenen Gesichter der Leute, an denen er vorbeilief, beachtete er nicht. Seine schwarze Erscheinung war ein höchst auffalliger Anblick. Er sah übel zugerichtet aus, eine schlimme Beule zierte sein Gesicht, und der Gestank der Abwasserkanäle haftete ihm nur zu deutlich an. Zweimal fragte Jimmy die Wachen, wo sich der Prinz aufhielte, und beide Male sagten sie ihm, er sei auf dem Weg in seine Gemächer.

Unterwegs entdeckte Jimmy zwei entsetzte Gesichter, die er sehr gut kannte. Da standen Gardan und Roald der Söldner. Die beiden hatten sich unterhalten, bis er aufgetaucht war. Der Marschall von Krondor wirkte nach dem anstrengenden Tag, der lange noch nicht vorbei war, jetzt schon müde. Lauries Jugendfreund hingegen schien bereits betrunken zu sein. Seit der Rückkehr vom Moraelin war Roald ständiger Gast im Palast, doch Gardans Angebot, in Aruthas Leibwache einzutreten, hatte der Söldner bislang nicht angenommen. Jimmy sagte: »Ihr solltet besser mitkommen.« Das genügte, damit sich die beiden ihm sofort anschlossen. Jimmy meinte: »Ihr werdet nicht glauben, was sie diesmal vorhaben.« Wer ›sie‹ waren, mußte Jimmy nicht extra erklären. Gardan hatte Roald inzwischen von der Warnung des Aufrechten berichtet. Und die beiden waren schon früher, an Aruthas Seite, mit den Nachtgreifern und den Schwarzen Kämpfern von Murmandamus in Berührung gekommen.

Sie bogen um eine Ecke und sahen Arutha gerade die Tür zu seinem Zimmer öffnen. Der Prinz hielt inne und wartete, bis die drei nähergekommen waren. Offensichtliche Neugier machte sich auf seinem Gesicht breit.

Gardan sagte: »Hoheit, Jimmy hat etwas entdeckt.«

Arutha sah sie irritiert an und sagte: »Kommt herein. Es gibt noch ein paar Dinge, die ich erledigen muß, also faßt euch kurz.«

Der Prinz schob die Tür auf und führte sie durch das Vorzimmer zu seinem privaten Empfangssaal. Als er die Tür öffnen wollte, ging sie von selbst auf.

Roald riß die dunklen Augen auf. Vor ihm stand noch ein .Arutha. Der Prinz in der Tür sah sie an und stammelte: »Was ...« Dann zogen beide Aruthas ihre Waffen. Roald und Gardan zögerten. Was sich da vor ihren Augen abspielte, war unmöglich. Während die beiden Prinzen aufeinander losgingen, beobachtete Jimmy den ›zweiten‹ Arutha, denjenigen, der aus dem Empfangssaal getreten war und nun dorthin zurückwich, um Platz zum Kämpfen zu gewinnen. Gardan rief nach der Wache, und einen Moment später drang ein ganzes Dutzend Soldaten durch die Tür herein.

Jimmy sah sich die beiden gleichen Prinzen genau an. Die Ähnlichkeit war wirklich unheimlich. Er kannte Arutha besser als jeden anderen, doch nun, nachdem sich die beiden Männer in ein wildes Duell gestürzt hatten, konnte er sie unmöglich auseinanderhalten. Der Betrüger führte sogar die Klinge mit dem gleichen Geschick wie der Prinz. Gardan befahl: »Ergreift sie beide.«

Jimmy schrie: »Wartet! Wenn ihr euch den echten zuerst schnappt, wird der Betrüger ihn vielleicht töten.« Gardan widerrief seinen Befehl auf der Stelle.

Die beiden Fechter machten Ausfalle und parierten und liefen dabei durch das ganze Zimmer. Auf ihren Gesichtern stand grimmige Entschlossenheit. Dann eilte Jimmy quer durch den Raum, und ohne Zögern sprang er auf einen der beiden zu. Er stieß mit dem Dolch nach ihm und drängte ihn zurück. Die Wachen strömten in den Saal und ergriffen auf Befehl des Marschalls den anderen. Gardan war sich nicht im klaren, was Jimmy da eigentlich tat, doch er wollte es nicht drauf ankommen lassen. Beide Männer mußten festgehalten werden, bis die Sache aufgeklärt war.

Jimmy rang auf dem Boden mit dem anderen Arutha, der ihn mit einem Schlag des Handrückens zur Seite fegte. Dieser Arutha wollte sich erheben, hielt jedoch inne, als ihm Roald die Spitze seines Schwertes an die Kehle setzte. Der Mann am Boden schrie: »Der Junge ist verrückt geworden. Wachen! Ergreift ihn!« Dann, als er aufstand, legte er die Hand an seine Seite. Er nahm sie wieder hoch; sie war blutverschmiert. Der Mann wurde bleich und begann zu schwanken. Scheinbar stand er an der Schwelle zur Ohnmacht. Der andere Arutha stand still da und erduldete widerstandslos den festen Griff der Wachen.

Jimmy schüttelte den Kopf, um sich von den Folgen des zweiten heftigen Schlags am heutigen Tag zu erholen. Als er den Zustand des verletzten Mannes sah, rief er: »Achtet auf den Ring!«

Während der Junge das sagte, nahm der Verletzte die Hand an den Mund, und als Roald und eine Wache ihn ergriffen, sackte er bewußtlos zusammen. Roald sagte: »Sein fürstlicher Siegelring ist eine Fälschung. Es ist genauso ein Giftring, wie ihn die anderen trugen.«

Gardan untersuchte den Ring. »Nein, er ist wegen der Wunde zusammengebrochen.«

Roald sagte: »Die Ähnlichkeit ist wirklich unglaublich. Jimmy woher wußtest du Bescheid?«

»Ich hab' ihn in den Abwasserkanälen gesehen.«

»Aber wieso wußtest du, welcher der falsche Prinz ist?« fragte Gardan.

»Die Stiefel. Sie sind voller Dreck.«

Gardan betrachtete nacheinander erst Aruthas blitzblanke Stiefel und dann die schlammverkrusteten des falschen Prinzen, Arutha sagte: »Was für ein Glück, daß ich heute nicht in Anitas frischbepflanztem Garten spazierengegangen bin. Ihr hättet mich in meinen eigenen Kerker geworfen.«

Jimmy besah sich den besiegten Betrüger und den richtigen Prinzen genau. Beide trugen Kleider gleichen Schnitts und gleicher Farbe. Jimmy fragte Arutha: »Als wir eintraten, wart Ihr da bei uns, oder wart Ihr bereits hier im Zimmer?«

»Ich bin mit euch eingetreten. Er muß mit den letzten Gästen gekommen sein und dann einfach hierher in meine Gemächer gegangen sein.«

Jimmy stimmte zu. »Er hat gehofft, Euch hier allein zu erwischen, Euch zu töten und Eure Leiche in einem Geheimgang oder in den Abwasserkanälen verschwinden zu lassen. Dann hätte er Euren Platz eingenommen. Ich bin sicher, die Scharade hätte nicht lange gedauert, doch selbst in wenigen Tagen hätte er schon alles reichlich durcheinanderbringen können.«

»Du hast mal wieder genau das Richtige getan, Jimmy«, lobte Arutha und fragte Roald: »Wird er überleben?«

Roald untersuchte ihn. »Ich weiß es nicht. Diese Kerle haben die lästige .Angewohnheit, dann zu sterben, wenn sie nicht sollen, und nicht tot zu bleiben, wenn sie besser sollten.«

»Holt Nathan und die anderen. Und bringt ihn in den Ostturm. Gardan, Ihr wißt, was zu tun ist.«

Jimmy sah zu, während Vater Nathan, ein Priester von Sung der Weißen und Berater von Arutha, den Assassinen untersuchte. Alle Personen, die Zugang zu dem Turm hatten, in dem der Gefangene untergebracht worden war, staunten über die Ähnlichkeit. Hauptmann Valdis, ein breitschultriger Mann, der, ehe er zum Anführer von Aruthas Leibwache aufgestiegen war, als Oberleutnant unter Gardan gedient hatte, schüttelte den Kopf. »Kein Wunder, daß ihm die Kerle sogar salutiert haben, als er durch den Palast spazierte. Er gleicht Euch wie ein Ei dem anderen.«

Der Verwundete war an den Pfosten seines Bettes festgebunden. So wie den anderen Nachtgreifern, den man bereits früher gefangen hatte, hatte man ihm den Giftring abgestreift und jegliche Gegenstände entfernt, mit denen er sich selbst hätte töten können. Nathan stand vom Bett des Gefangenen auf. Der stämmige Priester sagte: »Er hat viel Blut verloren, und sein Atem geht sehr flach. Ich würde sagen, es steht auf Messers Schneide.«

Der fürstliche Heiler nickte zustimmend. »Ich würde normalerweise sagen, daß er durchkommen wird, Hoheit, doch ich habe bereits ihren Todeswillen kennengelernt.« Er sah aus dem Fenster. Am Himmel zeigte sich das erste Licht des Morgens. Sie hatten Stunden damit verbracht, die Verletzungen zu heilen, die Jimmy mit seinem Dolch angerichtet hatte.

Arutha dachte nach. Als sie zum letzten Mal einen Nachtgreifer hatten ausquetschen wollen, hatte am Ende eine wiederbelebte Leiche etliche Wachen getötet und beinahe die Hohepriester in von Lims-Kragma und die Prinzessin ermordet. Der Prinz sagte zu Nathan: »Wenn er das Bewußtsein zurückerlangt, benutzt Eure Künste und seht, ob Ihr nicht etwas von ihm erfahren könnt. Wenn er stirbt, verbrennt die Leiche sofort.« An Gardan, Jimmy und Roald gewandt, sagte er: »Ihr kommt mit mir«, und zu Valdis: »Hauptmann, verdoppelt die Wachen, aber ohne Aufsehen.«

Er verließ das schwerbewachte Zimmer und steuerte an der Spitze seiner Gefährten auf seine eigenen Gemächer zu. »Jetzt, wo Anita mit den Zwillingen auf dem Weg zu ihrer Mutter ist, brauche ich mir nur noch Gedanken darum zu machen, wie ich diese Assassinen ausrotten kann, bevor sie wieder einen Weg finden, an mich heranzukommen.«

Gardan sagt: »Aber Ihre Hoheit ist doch noch gar nicht abgereist.«

Arutha drehte sich abrupt um: »Wie bitte? Sie hat sich schon vor einer Stunde im Morgengrauen von mir verabschiedet.«

»Das mag sein, Sire, es waren jedoch noch tausend Kleinigkeiten zu erledigen. Das Gepäck ist erst vor kurzem aufgeladen worden. Die Wachen stehen allerdings schon seit zwei Stunden bereit, dennoch meine ich, die Wagen seien noch nicht abgefahren.«

»Dann eilt und vergewissert Euch, daß sie bis zu ihrer Abreise in Sicherheit sind.«

Gardan lief davon, und Arutha, Jimmy und Roald setzten ihren Weg fort. Arutha sagte: »Ihr wißt ganz genau, mit wem wir es zu tun haben. Von allen hier im Palast wissen nur diejenigen, die mit am Moraelin waren, was für einem Feind wir hier gegenüberstehen. Dieser Krieg ist ein Krieg ohne Gnade, und er wird erst vorbei sein, wenn eine Seite völlig niedergeworfen ist.«

Jimmy nickte. Er war ein wenig von Aruthas Tonfall überrascht. Der letzte Überfall schien ihm ziemlich an die Nerven gegangen zu sein. Jimmy hatte den Prinzen als einen vorsichtigen Mann kennengelernt, der sorgsam immer alles zur Verfügung stehende Wissen berücksichtigte und sich daraus das bestmögliche Urteil bildete. Die einzige Ausnahme hatte Jimmy miterlebt, als Anita mit der Verletzung daniederlag, die ihr der Lachende Jack mit einem Armbrustpfeil zugefügt hatte, welcher eigentlich Arutha hatte treffen sollen. Da hatte sich Arutha verändert. Jetzt, genauso wie damals, als Anita beinahe getötet worden war, schien sich der Mann abermals an der Grenze der Vernunft zu bewegen. Jetzt, wo sein Allerheiligstes Ziel der Angriffe wurde, war er ein Mann voller Wut. Das Wohlergehen seiner eigenen Person und seiner Familie stand auf dem Spiel, und denen gegenüber, die dafür verantwortlich waren, legte er einen kaum bezähmbaren, tödlichen Zorn an den Tag.

»Du mußt Trevor Hull finden«, trug er Jimmy auf. »Ich will, daß seine besten Männer heute nach Sonnenuntergang bereitstehen. Und er soll mit Cook sobald wie möglich hier erscheinen. Ich will zusammen mit ihnen, Gardan und Valdis das weitere Vorgehen besprechen.

Roald, deine Aufgabe ist es, Laurie heute zu beschäftigen. Da ich heute nachmittag nicht Hof halte, wird er sicherlich merken, daß etwas nicht in Ordnung ist. Lenk ihn ab, vielleicht mit einer Tour durch seine alten Stammkneipen in der Stadt, und halt ihn vor allem vom Ostturm fern.« Jimmy wirkte überrascht. »Er und Carline sind nun verheiratet, und es genügt, wenn ich das Leben eines Mitglieds unserer Familie gefährde. Und er wäre ohne Zweifel dumm genug, mich begleiten zu wollen.«

Roald und Jimmy wechselten einen Blick. Beide ahnten, was der Prinz für heute nacht plante. »Geht jetzt. Ich wollte noch mit Nathan über etwas reden. Gebt mir Bescheid, wenn Hull zurück ist.« Ohne weitere Worte machten sie sich auf, die ihnen zugewiesenen Aufgaben zu erledigen. Arutha kehrte derweil in seine Gemächer zurück, wo er mit dem Priester der Sung sprechen wollte.